Zum Kulturraum 'Indien' werden neben dem indischen Nationalstaat Pakistan und Bangladesch, Nepal, Bhutan, Myanmar, Sri Lanka und die Malediven gezählt. Im heutigen Pakistan entstand im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine frühe Hochkultur: die Indus-Tal-Zivilisation. Statuetten und Siegel, die in Harappa und Mohenjo-daro gefunden wurden, deuten auf eine frühe Tanzkultur hin.
In den großen indischen Mythen 'Mahabharata' und 'Ramayana' finden sich Beschreibungen von Tanz und TänzerInnen. Arjuna, der Held des Mahabharata, versteckt sich z.B. als Tanzlehrer an einem Königshof. Der Grammatiker Panini (4. oder 5. Jahrhundert v. u. Z.) erwähnt in seinen Schriften das 'Nata Sutra', einen Leitfaden für Tänzer und Schauspieler. Im 'Arthashastra' (ca. 300 Jahre v. u. Z.), dem Staatslehrbuch des Kautilya, und in Regierungserlässen der Zeit finden Tänzerinnen und Tanzaufführungen Erwähnung.
Mit dem 'Nāṭya Śāstra' entsteht zu Beginn unserer Zeitrechnung (+/- 200 Jahre) das erste und umfassendste Kompendium zur darstellenden Kunst, welches heute zugänglich ist. 'Nāṭya' bedeutet Drama, 'Śāstra' Wissenschaft / Lehrwerk. Das Nāṭya Śāstra ist im pan-indischen Sanskrit verfasst, seine Autorenschaft wird dem Weisen Bharata zugeschrieben. Es enthält eine detaillierte Kodifizierung der Techniken der darstellenden Künste und der ästhetischen Verfahren des Theaters (→Ästhetik / Technik).
Der Tanz und die Musik, die uns in diesem Werk begegnen, sind immer Teil von Theateraufführungen.
Im 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung entstehen immer mehr bildliche Darstellungen von Tanzposen an den Heiligtümern und Tempeln von Buddhisten, Jaina, Vaishnava und Shaiva. Auch die Götter werden in Tanzposen dargestellt, allen voran Śiva in seiner Form des 'Naṭarāja' (König der Tänzer). Das Nāṭya Śāstra ist bis mindestens in das 10. Jahrhundert das Standardwerk der darstellenden Künste in Indien. Über die Handelsrouten breitet sich sein Einfluss bis nach Indonesien aus. Techniken aus diesem Werk (nämlich die Karaṇa) sind an südindischen Tempeln aus dem 9. bis 16. Jahrhundert dargestellt. Die älteste bislang bekannte Karaṇa-Serie wurde jedoch in Java, in Prambanan, gefunden und datiert um 850.
Textquellen lassen vermuten, dass Tanz vor Beginn unserer Zeitrechnungen bereits Teil des religiösen Rituals war. Für diegroßen Hindu-Tempel, die gegen Ende des 1. Jahrtausends entstehen, sind tänzerisch gebildete Tempeldienerinnen belegt.
Im späten 10. Jahrhundert schreibt Abhinava Gupta in Kashmir 'Abhinavabharati', seinen Kommentar zum Nāṭya Śāstra. Er leitet damit eine neue Auseinandersetzung mit der klassischen, darstellenden Kunst ein. Es entsteht eine vielfältige Fachliteratur in deren Fokus allmählich die regionalen Stile rücken.
Im 13. Jahrhundert verfasst Śārṅgadeva sein 'Saṅgīā Ratnakara', in welchem er als Erster Tanz und Musik unabhängig vom Theater behandelt. Damit setzt er einen neuen Standard.
Tanzkunst und Musik lösen sich im Norden des indischen Subkontinents dann bald auch aus dem religiösen und rituellen Kontext. Dabei spielen zwei Faktoren eine wichtige Rolle:
- Nach dem 10. Jahrhundert wird hier der Betrieb der Tempel durch Invasionen aus Zentralasien gestört. Damit verliert der reglementierte Tanz eine wichtige Plattform.
-Ab dem 16. Jahrhundert übernehmen mit den Moguln große Förderer der Künste die Macht. Unter ihrer Patronage entwickelt sich ein Tanzstil, den wir heute als 'Kathak' kennen. Dabei bleiben die klassische Terminologie und die Themen weitgehend erhalten. Inspiriert vom persischen Einfluss entsteht aber eine neue Ästhetik.
Während der britischen Herrschaft (1858 - 1947) erlebt besonders der Tempeltanz, welcher sich in Süd- und Ostindien erhalten hat, einen Niedergang. Eine zunehmend englisch-viktorianisch gebildete Gesellschaft nimmt Tanz vor allem im religiösen Kontext als unangemessen erotisch wahr. Die Tempeldienerinnen verlieren an Ansehen und wirtschaftlicher Sicherheit. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht die 'Anti-Nautch'- (Anti-Tanz-) Bewegung. Die Weihung von Tempeldienerinnen wird 1934 in Bombay und 1947 im Staat Madras für illegal erklärt.
Nachdem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ende des Tempeltanzes in Indien einläutet, rückt die Tanzkunst selber in den Fokus einer jungen indischen Elite, in welcher sich der Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit regt. Sie entdeckt den Tanz als Ausdruck kultureller Identität. Dem Ansehen der Kunst hilft auch das grosse Interesse einer internationalen Tanzszene, die nach neuen Impulsen sucht (z.B. Anna Pavlova / Ruth St.Denis).
Mit der nun einsetzenden Erforschung noch praktizierter Tanztraditionen sowie schriftlicher und archäologischer Quellen wächst das Bewusstsein für Alter und Komplexität der Tanzkunst Indiens.
Zur Untersuchung und Förderung der darstellenden Künste wird 1952 im mittlerweile unabhängigen Indien die 'Sangeet Natak Akademi' ins Leben gerufen. Diese hat bislang neun regionale Tanzstile identifiziert, welche auf alten Regelwerken basieren und damit als klassisch gelten:
Kathak im nordindischen Raum
Sattriya in Assam
Manipuri in Manipur
GaudiyaNritya in Bengalen
Odissi in Odisha
Kuchipudi in Andhra Padesh
BharatNāṭyam in Tamil Nadu
Mohiniaṭṭam in Kerala
Kathakaḻi, ebenfalls in Kerala
Bei allen Unterschieden zwischen diesen Stilen gibt es einige Merkmale, die für die meisten klassischen und oft auch für die sogenannten Volks-Tänze typisch sind.
Jeder Tänzer, der in der indischen Tradition steht, kennt zwei Formen von Tanz: den abstrakten, genannt 'Nṛtta', und den darstellenden Tanz, genannt 'Abhinaya'.
Nṛtta hat kein konkretes Thema. Sein Sinn liegt darin, Schönheit zu erzeugen. Eine wichtige Rolle spielt dabei in den meisten zeitgenössischen Formen des klassischen indischen Tanzes die Symmetrie:
Bewegungen der Beine werden immer von Bewegungen der Arme begleitet
Bewegungsabläufe werden meist spiegelverkehrt wiederholt
die Wege, die ein Tänzer im Raum zurücklegt, folgen geometrischen Mustern
Abhinaya kommuniziert konkrete Inhalte. Körpersprache, vor allem Gestik und Mimik, werden eingesetzt, um z.B. einen Liedtext zu interpretieren und zu vermitteln. Diese 'Sinn-Übertragung' vom Akteur auf den Betrachter wird im Nāṭya Śāstra wie folgt analysiert:
Durch Abhinaya-Techniken entsteht 'Bhava': Emotion / Affekt. Das Zusammenspiel verschiedener Bhava erzeugt 'Rasa', wörtlich: Essenz / Duft, im übertragenen Sinn: das, was vom Zuschauer genossen werden kann / Ästhetik.
Dabei entsprechen sich die dargestellten Emotionen und die Reaktion des Zuschauers nicht unbedingt.
Der ästhetische Ausdruck 'Rasa' kann im klassischen indischen Theater durch vier Formen der Darstellung 'Abhinaya' erzeugt werden:
Ausdruck durch Körper (Angika Abhinaya)
Ausdruck durch Stimme (Vacika Abhinaya)
Ausdruck durch Ausstattung (Aharya Abhinaya)
wahrer / unverfälschter Ausdruck (Sāttvika Abhinaya)
Den Techniken des körperlichen Ausdrucks sind im Nāṭya Śāstra sechs von 36 Kapiteln gewidmet. Diese sind die erste Kodifizierung von Tanz überhaupt, die heute zugänglich ist. Hier wird der Körper in verschiedene Bereiche unterteilt, deren individuelle Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die 'Aṅga Bheda', werden dann erläutert. Dabei liegt ein Schwerpunk auf den Ausdrucksmöglichkeiten von Kopf / Gesicht, ein weiterer auf denen von Armen / Händen. Für die Hände wird eine eigene Gestensprache entwickelt, die es erlaubt, auch komplexe Sachverhalte darzustellen.
Zwar hat sich Tanz in Indien seitdem immer wieder gewandelt und entwickelt, aber das Konzept, segmentierte Detailbewegungen zu kombinieren, besteht bis heute.
Für die Grundpositionen der meisten klassischen Tänze (Ausnahme: Kathak) werden die Knie deutlich gebeugt, und dabei nach aussen gedreht (Ausnahme: Manipuri). Dadurch wird der Körperschwerpunkt gesenkt und geerdet, der Tänzer macht sich kleiner als er eigentlich ist. Streckungen über mehrere Gelenke und raumgreifende Sprünge kommen in allen Stilen kaum vor.
Die indische Musik hat zwei Grundprinzipien: den 'Rāga' ≈ harmonische Stimmung und den 'Tāla' ≈ rhythmische Struktur. Der Tāla bewegt sich zyklisch. Der Zyklus wird vom gleichzeitig ersten und letzen Schlag begonnen und geschlossen, dieser Schlag wird ‚Sam‘ genannt.
In den meisten Tanzstilen Indiens hat der Tänzer aktiven Anteil am Rhythmus. Vor allem im Nṛtta, also im ‚reinen‘ Tanz,werden durch das Klatschen der Füße und den Klang der 'Gungrū' (Bronzeglöckchen), die an den Fußgelenken getragen werden, eigene Phrasierungen entwickelt. Diese können den rhythmischen Mustern der begleitenden Musik entsprechen oder sie konterkarieren.
Dieser Aspekt findet seine Perfektion im nordindischen Kathak.
Neben den technischen Eigenheiten fällt im indischen Tanz eine besondere, spirituelle Durchdringung auf. Im ersten Kapitel des Nāṭya Śāstra wird für die Künste ein göttlicher Ursprung postuliert. Nach indischem Verständnis ist die Kunst nicht vom Menschen erschaffen, sondern sie wird von ihm bewahrt, weshalb Traditionen auch im Tanz Indiens eine so wichtige Rolle spielen.
Die Wurzeln des Hinduismus lassen sich bis in die Indus-Tal-Zivilisation verfolgen. Die Kontinuität der indischen Kultur wird durch die dem Hinduismus inhärente Fähigkeit zur Assimilierung (z.B. Buddhismus / Islam) ermöglicht. Dieser Zug spiegelt sich auch im Tanz - besonders in Tanzformen, die über lange Zeit an den Tempeln kultiviert wurden - wieder. Erkennbar sind Einflüsse des vedischen Opferrituals, des 'Tantra' (Mikro-Makrokosmos) und ganz besonders der 'Bhakti'-Bewegung, welche Erlösung durch liebevolle Hingabe propagiert.
Die liebevolle Hingabe bezieht sich auch auf die Tradition und ihre Vermittler: ein Tanzlehrer ist auch spiritueller Meister, was sich in dem Titel 'Guru' ausdrückt.
Tanz in reglementierter Form blickt in Indien auf eine mehrtausendjährige Entwicklung zurück. Bis in das 20. Jahrhundert war er ein zentrales Element religiöser Rituale und er ist bis heute Vermittler von mythologischen, moralischen und spirituellen Inhalten. Seine Bedeutung geht damit weit über das Soziale und Ästhetische hinaus.
Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte des formalisierten Tanzes im indischen Kulturraum ist die Niederschrift des ‚Nāṭya Śāstra’. Tatsächlich ist von vielen Charakteristiken, die typisch sind für den indischen Tanz, festzustellen, dass sie bereits in der ältesten Quelle, nämlich dem Nāṭya Śāstra, angelegt sind.
Die Kontinuität der indischen Kultur und des Tanzes als Teil von ihr ist beeindruckend. Sie wird zum einen von der hohen Bedeutung von Tradition ermöglicht. Zum anderen durch die nur scheinbar im Widerspruch dazu stehenden Fähigkeit der Assimilierung neuer Einflüsse, die der hinduistischen Kultur bislang inhärent ist.
Tanz ist elementarer Bestandteil der indischen Kultur. Der unter 'Bollywood' bekannte, kommerzialisierte Tanz der Unterhaltungsindustrie, der sich heute großer Beliebtheit erfreut, schöpft aus den alten Traditionen zahlreicher Volkstänzen (Bangra, Garba uvm) und der klassischen Tänze verschiedener Regionen Indiens.
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