Nāṭya Śāstra

Die Lehrschrift des sagenhaften Weisen Bharata

Das "Lehrwerk über das Theater", ca. 1.-3. Jh. n.Chr., gilt als die älteste erhaltene Quelle, die die Besonderheit darstellender, künstlerischer Verfahren beschreibt. Sein Einfluß reicht weit über die Grenzen Indiens hinaus: Die darstellenden Künste Indonesiens und wahrscheinlich auch Chinas sind von diesem Werk zumindest beeinflusst.

Das Nāṭya Śāstra handelt vom Theater: von Aufführungs- Schauspiel- und Tanztechniken etc. Außerdem liefert es mit der Lehre von den ‚Rasa‘ und ‚Bhāva‘ eine Reflexion über die Eigenart der im Theater stattfindenden "ästhetischen Erfahrung". Diese ästhetische Erfahrung wird erzeugt durch Abhinaya - sinngemäß 'Ausdruck'. Das Nāṭya Śāstra listet vier Formen von Abhinaya auf:

 

• Āṅgika Abhinaya - Ausdruck durch die Körpereinheiten

• Vācika Abhinaya - Ausdruck durch die Stimme

• Āhārya Abhinaya- Ausdruck durch das Kostüm

• Sāttvika Abhinaya - Ausdruck durch Gefühle

Der Erläuterung dieser Ausdruckstechniken ist der größte Teil des Werkes gewidmet.

 

Āṅgika Abhinaya

Die Techniken des körperlichen Ausdrucks finden Anwendung im Drama - Nāṭya - bilden aber auch die Grundlage des Tanzes - Nṛtta. Daher die enge Verwandtschaft zwischen Tanz und Drama im indischen Kulturraum.

Bharata sagt, dass der Tänzer auf seine Grundhaltung achten soll, denn ohne eine gerade Haltung entstehe keine Schönheit in Drama und Tanz. Er unterteilt im Nāṭya Śāstra den Körper in Haupteinheiten, Aṅga und Nebeneinheiten, Upaṅga.

Die sechs Haupteinheiten sind für Bhatata:

 

• Der Kopf - Śira

• Die Hände - Hasta

• Der Brustkorb - Uras

• Die Seiten - Pārśva

• Die Hüften - Kaṭi

• Die Füße - Pāda

 

Die Sechs Nebeneinheiten sind laut Bharata:

 

• Die Augen – Dṛṣṭi

• Die Augenbrauen - Bhrū

• Die Nase - Nāsikā

• Die untere Lippe - Adhara

• Die Wangen - Gaṇḍa

• Das Kinn - Cibuka

 

Die Nebeneinheiten, Upaṅga, sind bei Bharata also Nebeneinheiten des Gesichtes. Da Bharata auch Nebeneinheiten des restlichen Körpers behandelt, ohne diese kategorisiert zu haben, können wir vielleicht im Nachhinein noch eine zweite Art von Upaṅga hinzufügen.

Die Upaṅga Bharatas wären dann Mukhaja Upaṅga - Nebeneinheiten des Gesichts, die Upaṅga des Körpers, die wir im Nāṭya Śāstra erläutert finden, könnten Śarīra Upaṅga - Nebeneinheiten des Körpers - genannt werden.

 

Die Bewegungsmuster der einzelnen Körperteile werden von Bharata analysiert und als isolierte Übungen vorgestellt. Diese Haltungen und Bewegungen werden Bheda genannt. Die Bheda sind das Fundament des Tanzes. Sie werden einzeln geübt und immer komplexer miteinander kombiniert. So entstehen die komplizierten und minutiös abgestimmten Bewegungsabläufe der klassischen indischen und indonesischen Tänze.

 

Aṅga Bheda

Bharata hält sich in seinen Ausführungen über die Aṅga Bheda, wie oben angedeutet, nicht strikt an die zuerst vorgenommene Einteilung in Aṅga und Upaṅga.

Vielmehr unterteilt er den körperlichen Ausdruck in Mimik, Mukhaja Abhinaya, Gestik, Hasta Abhinaya, und Dynamik des gesamten Körpers, Śarīra Abhinaya.

 

Mimik - Mukhaja Abhinaya:

Die Bheda der sechs Mukhaja Upaṅga - Augen, Augenbrauen, Nase, Unterlippe, Wangen und Kinn - werden hier ergänzt oder erläutert durch Bewegungen von Pupillen, Augenlidern, Gesicht, Hals und Färbungen des Gesichts.

Kombinationen der Pupillen, Lider und Brauen ergeben neben acht Arten des Schauens und sechsunddreissig Arten des Blickens. Diese Blicke spiegeln innere Vorgänge wieder, der Übergang von Āṅgika und Sattvika Abhinaya ist hier also fließend.

Folgende Bheda werden in diesem Kapitel erläutert:

 

• Śira Bheda: 13 Kopfbewegungen,

• 9 Bewegungen der Augäpfel bzw. Pupillen,

• Puṭa Bheda: 9 Bewegungen der Lider,

• Dṛṣṭi Bheda: 8 Arten des Schauens.

• Kombinationen der Bewegungen von Augäpfeln, Lidern und Brauen ergeben:

Rasa Dṛṣṭi: 8 Blicke der Empfindungen

Sthaybhāva Dṛṣṭi: 8 Blicke der Emotionen

Vyabhicāribhāva Dṛṣṭi: 20 Blicke vorübergehender Regungen,

• Bhrū Bheda: 7 Bewegungen der Augenbrauen,

• Nāsikā Bheda: 6 Bewegungen der Nase,

• Adhara Bheda: 6 Bewegungen der unteren Lippe,

• Gaṇḍa Bheda: 6 Bewegungen der Wangen,

• Cibuka Bheda: 7 Bewegungen des Kinns,

• Mukha Bheda: 6 Bewegungen des Gesichtes,

• die Farbe des Gesichts, mit 4 Nuancen und

• Grīvā Bheda: 9 Bewegungen des Halses.

 

Gestik - Hasta Abhinaya:

Die Gesten der Hände unterteilt Bharata, wie alle nach ihm, in einhändige und beidhändige Gesten. Zur Anwendung dieser Gesten im Drama schlägt er verschiedene Arten vor, diese zu Bewegen. Die räumlichen Bewegungen der Hände definieren die Armbewegungen.

Die Nṛttahasta - 'Tanzhände' - werden zwar 'Hasta' genannt, meinen aber nicht nur die Hände sondern beschreiben Bewegungsabläufe des gesammten oberen Körpers.

 

• Asaṃyuta Hasta: 24 einhändige Gesten

• Saṃyuta Hasta: 13 beidhändige Gesten

• 20 Bewegungen der Hände zum Ausdruck von Empfindungen und Emotionen

• 5 räumliche Bewegungen der Hände

• Nṛttahasta: 30 'Tanzhände'

 

Dynamik des Körpers - Śarīra Abhinaya:

Die restlichen Körperteile, Aṅga und Śarīra Upaṅga, werden wie folgt erläutert:

 

• Uras Bheda: 5 Bewegungen des Brustkorbs

• Pārśva Bheda: 5 Bewegungen der Seiten

• Udara Bheda: 3 Bewegungen des Bauches

• Kaṭi Bheda: 5 Bewegungen der Hüften

• Ūru Bheda: 5 Bewegungen der Oberschenkel

• Jaṅghā Bheda: 5 Bewegungen der Unterschenkel

• Pāda Bheda: 5 Bewegungen der Füße

 

Positionen, Schritte & Kombinationen

Auf den Aṅga Bheda der unteren Körperhälfte, also Füße, Unter-, Oberschenkel und Hüften, bauen die Chari auf. Chari sind unterschiedlichste Schritte die Bharata in bodenverhaftete Schritte, Bhaumi Chari, und solche, die in der Luft ausgeführt werden, Ākāśa Chari, aufteilt.

Als Ausgangspositionen für diese Schritte bietet Bharata männliche und weibliche Positionen, Sthāna, an.

Bharata beschreibt bestimmte Kombinationen von Chari, die er Maṇḍala nennt, und die explizit zur Darstellung von Kampfhandlungen dienen. Diese Maṇḍala sind ebenfalls in 'bodenverhaftet' und 'in der Luft ausgeführt' unterteilt. Er ergänzt diese Maṇḍala durch Nyaya - verschiedenen Arten, Waffen zu handhaben.

Außerdem formen Kombinationen von Chari im Zusammenspiel mit den oben erwähnten Nṛtta Hasta die Karana. Karana sind die kleinsten Einheiten des im Nāṭyashastrta beschriebenen Tanzes.

 

Wir finden im Nāṭya Śāstra also folgende auf den Aṅga Bheda aufbauende Tanztechniken:

 

• 16 Bhaumi Chari

• 16 Ākāśa Chari

• 9 Sthāna (männliche und weibliche Positionen)

• 108 Karana

• 4 Nyaya

• 10 Bhaumi Maṇḍala 

• 10 Ākāśa Maṇḍala

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